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Mit der Eisenbahn! Ein Seufzer darüber, dass es so schwierig ist, von Prag nach Nürnberg zu fahren

Mittwochmorgen. Hinter den Fenstern des Nahverkehrszugs kriecht die Landschaft Bayerns nur langsam vorbei. Mehr als sie beschäftigen mich allerdings die Buchstaben auf dem Bildschirm meines Laptops. Seminararbeiten sind zu korrigieren, Texte zu beenden, Mails zu beantworten. Für einen kurzen Tag recht viel. Aber man reist heutzutage ja bequem und in Ruhe, sage ich mir. Da werde ich bestimmt alles schaffen.

Aus der verschlafenen Ruhe reißt mich mit einem Mal die Durchsage: „Achtung, Achtung. Auf der Strecke vor uns befindet sich noch die vorhergehende Verbindung. Wir müssen warten, bis die Strecke frei wird. Unser Zug wird sich um einige Minuten verspäten. Wir danken für Ihr Verständnis,“ vermeldet der Lautsprecher und verstummt. Na super. Die Umstiegszeit von akzeptablen 15 Minuten in Nürnberg ist soeben bedenklich geschrumpft.

Schon als ich kurz vor der Endstation in den Gang des Zugs trete, merke ich, dass ich ein Problem habe. Nichts zum Essen, das Koffein auf Null. Zudem fährt der Bus neuerdings nicht mehr vom Hauptbahnhof, sondern vom Busbahnhof ab. Das macht nochmal fünf Minuten mehr. Ich renne mit meinem Rollkoffer und der sperrigen Handtasche durch die Bahnhofshalle.

Auf dem Weg schaffe ich es gerade so, eine Brezel zu erbeuten und am Automaten einen Kaffee hervorzuzaubern. Beim ersten Versuch, nachdem ich die Taste „Cappuccino“ drücke, gibt er ein Röcheln von sich und spuckt einen Schluck warme Milch aus. Beim zweiten passiert das Gegenteil – er schüttet einen halben Liter braune Flüssigkeit aus, die über den Becherrand rinnt. Der Plastikdeckel ist nicht dicht. Jetzt sei mal nicht zimperlich, einen Kaffee hast du schließlich bekommen, sage ich mir, als ich im Laufschritt eine aufgerissene Straßenkreuzung überquere. Eine anderthalb Minute bis zur Abfahrt.

Hurra, der Bus steht noch und ist noch nicht abgefahren! Meine Freude wird aber mit einem Schlag getrübt, als ich sehe, dass er gerappelt voll ist und ich den Koffer in den Gepäckraum schieben muss. Ich schlängle mich durch die verschwitzte Menge zu meinem Sitzplatz, wo ich feststelle, dass er für mich, meine Tasche, das Notebook und den Cappuccino lächerlich klein ist, und dabei bin ich nicht gerade ein Riese. Ich klappe den kleinen Tisch herunter, er hängt schief. In die Aussparung für Becher passt meiner definitiv nicht hinein. Und unmittelbar danach, wie durch eine höhere Macht, kippt er mir nonchalant auf den Schoss.

In dem Moment, in dem ich mithilfe von Papiertaschentüchern den schlimmsten Schaden beseitige und mich bemühe, die nachsichtigen Blicke meiner amerikanischen   Mitreisenden geduldig zu ertragen, weiß ich nur zu gut, dass es meine Schuld ist. Ich hätte den blöden Kaffee einfach weglassen sollen. Ich lasse mich aber nicht davon abbringen, auf diese andere, sogenannte höhere Macht wütend zu sein.

Prag und Nürnberg liegen nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Knapp 300 Kilometer, kürzer als nach Bratislava oder Ostrava. Tschechien und Bayern verbindet ein dichtes Netz von Handels-, Landschafts- und zwischenmenschlichen Beziehungen. Über die Autobahn ist man innerhalb von drei Stunden da. Mit dem Zug ist das schlimmer. Mit Umsteigen in Cheb oder Schwandorf und irgendeiner überflüssigen Sperrung auf der Strecke sind es fast fünf Stunden. Mit Blitzgeschwindigkeit, durchschnittlich 60 km/h.

Die direkte Bahnverbindung von Prag nach Nürnberg ist seit 2012 nicht mehr in Betrieb. Die Deutsche Bahn betreibt auf der Strecke einen Bus. Die völlige Absurdität der Situation macht man sich am besten bewusst, wenn man in diesem zweistöckigen Monstrum am Fenster zusammengequetscht sitzt, sich mit allen Kräften bemüht, die bekleckerten Hosen zu ignorieren und dazu noch mit dem Laptop jongliert, der sich, da es keine Steckdosen gibt, sowieso bald ausschalten wird.

In einem solchen Moment ist es einem vollkommen egal, dass man weiß, warum das alles so ist – dass die Strecke Cheb-Marktredwitz–Nürnberg, die bereits in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, nicht elektrifiziert ist und auf ihr nur Züge mit Dieselantrieb fahren können. Dass über die ganze Angelegenheit schon seit Jahren verhandelt wird und auf tschechischer Seite das Netz vorhanden ist und die Gleise bis zur Grenze liegen. Und dass wir diesen Fortschritt, wenn alles gut geht, noch innerhalb der nächsten zehn Jahre erleben könnten. Das ist alles schön und gut. Aber es bleibt das Gefühl, dass es fast 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs doch etwas zu lange dauert.

Man könnte abwinken und sagen, dass uns die Bahn in der Zeit schneller Autos und Autobahnen gestohlen bleiben kann. Das ist aber nicht der Fall. Bahnstrecken und ihre Geschwindigkeit entscheiden auch heute darüber, wo neue Verkehrsknoten entstehen und wer wiederum außenvor bleibt. Darüber, ob Leute in der Lage sind, ihre Arbeit zu erreichen und ob sie am Wochenende einen Ausflug zu ihren Nachbarn machen. Fern- und Regionalstrecken sind kurzum nicht nur ein Gewirr aus Bahnschwellen, Metallteilen und Dämmen, die die Landschaft zerschneiden. Sie sind auch ein Teil dessen, was uns verbindet. Oder trennt. Es kommt darauf an, welche Perspektive wir wählen.