Jürgen Serke
Worin besteht Ihre persönliche Motivation, sich für die deutsch-tschechischen Beziehungen zu engagieren?
In Prag wurde ich, was ich heute bin: als Journalist ein Bewahrer des literarischen Widerstands gegen die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Alles, was ich darüber geschrieben habe, hat seinen Ausgang in Prag. Die Initialzündung war der IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes im Juli 1967. Es war der Aufstand der Dichter des Landes gegen den Machtmissbrauch des kommunistischen Regimes. Er führte in den „Prager Frühling“ und in die Zerstörung dessen, was die Tschechen Sozialismus mit menschlichem Antlitz nannten, durch sowjetische Panzer. Die Haltung der tschechoslowakischen Dichter in der zwei Jahrzehnte währenden Unterdrückung ist für mich das größte Kapitel literarischen Widerstands im Europa des 20. Jahrhunderts. Als Korrespondent kehrte ich in die Bundesrepublik Deutschland zurück und in die deutsche Geschichte. Den tschechischen Widerstand im Gedächtnis, beschrieb ich den Widerstand der deutschen Dichter gegen das NS-Regime zwischen 1933 und 1945, schrieb ich über diejenigen, deren Werke 1933 öffentlich verbrannt wurden. Mit dem Buch „Die verbrannten Dichter“ (1977) holte ich die erst Verdrängten, dann Vergessenen ins Gedächtnis der Bundesrepublik zurück.
Danach suchte ich die tschechischen Dichter auf, die das kommunistische Regime ins westliche Exil vertrieben hatte. Darunter Ivan Blatný, als frühen Fall der Verfolgung. Pavel Kohout und Milan Kundera, Josef Škvorecký und Arnošt Lustig sowie Jiří Gruša. Das Buch „Die verbannten Dichter. Berichte und Bilder einer neuen Vertreibung“ erschien 1982. In dem Buch „Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft“ (1987) beschrieb ich die deutschsprachige Literatur der Tschechoslowakei. Ich sah einen einzigartigen mitteleuropäischen Literaturteppich, und ich fügte die erst von den Nazis und dann von den Kommunisten herausgerissenen Fäden wieder ein.
Für den in Mähren aufgewachsenen Robert Musil war Prag der „Mittelpunkt Europas, wo die Weltachsen sich schneiden“. Daran hat sich nichts geändert. Die Nacht war lang im 20.Jahrhundert der Totalitarismen. Die europäische Welt ist wieder vereint. Sie hat mit Brüssel, Straßburg und Luxemburg drei Hauptstädte.
Der zentrale Ort geistiger Repräsentanz Europas freilich war und ist Prag. Und für ihn ist jeder Einsatz wert.
Welche Bedeutung hatte bzw. hat Ihrer Meinung nach die Gründung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds?
Der Politik beider Länder ist zu danken, dass sie den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds ermöglicht hat. In einer Art Hellsicht, die um das ideologische Minenfeld politischen Denkens und Handelns weiß. Ohne den Zukunftsfonds hätten nach der Wende von 1989 die ideologischen Kämpfe des Rechthabens das Kulturelle überlagert. Nun ist es gerade umgekehrt gekommen. Und das ist ein Segen. Ein Segen, der keine Verlierer, nur Sieger hat.
Was ist in Ihren Augen das größte Verdienst des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds?
Mit Chuzpe gesagt: die finanzielle Unterstützung der tschechischen Übersetzung meiner „Böhmischen Dörfer“ im Jahre 2001 im kleinen Triada-Verlag Prag. Damit kam das Buch dort an, wo es zuallererst hingehört. So wirkt Franz Werfels „heilige Dreifaltigkeit: deutsch-tschechisch-jüdisch“ weiter in Gegenwart und Zukunft des Landes. Das Land integrierte die deutschsprachige Literatur der Tschechoslowakei in die tschechische Literaturgschichte, in die tschechische Geschichte.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der deutsch-tschechischen Beziehungen?
Ich wünsche mir, dass der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds über die nächsten Jahrzehnte mit seinen vielfältigen Aktivitäten erhalten bleibt – im Herausarbeiten des Gemeinsamen, in der Analyse des Unterschiedlichen. Getreu den Worten Frank Kafkas: Fremd im Heimischen und heimisch im Fremden.